Jede der beiden Kopien unserer Gene, auch Allele genannt, können als Vorlage für mRNA dienen, die wiederum für die Herstellung von Eiweiß-Molekülen sorgt, die die Funktion der Zellen sicherstellen. Man geht davon aus, dass das Vorhandensein von zwei Allelen für jedes Gen ein Reservesystem für die Zelle ist. Das zweite Allel dient als Backup und ist in der Lage, ausreichend mRNA zu produzieren, um den Verlust des ersten auszugleichen. Diese Redundanz macht diploide Organismen wie uns Menschen resistent gegen die Auswirkungen bestimmter Mutationen.
Eine Klasse von Genen, die sogenannten haploinsuffizienten Gene, sind jedoch auf die kontinuierliche Expression von zwei intakten Allelen angewiesen. Wenn nur ein Allel eines haploinsuffizienten Gens beeinträchtigt ist, kann eine Krankheit entstehen. Forschende stellten daher die Hypothese auf, dass Zellen einen Mechanismus haben, der die mRNA-Expression beider Allele für diese spezielle Klasse von Genen sicherstellt. In der aktuellen Studie unter der Leitung von Akhtar wird genau ein solcher Mechanismus beschrieben.
Epigenetischer Regulator MSL2 als Dosissensor
Mit MSL2 hat das Forscherteam erstmals ein Protein identifiziert, das dosisempfindliche Gene erkennen und deren biallelische Expression im jeweiligen Gewebe oder während bestimmter Entwicklungsstadien sicherstellen kann.
„Wir haben uns immer gefragt, ob die Genkopie auf dem mütterlichen Chromosom mit der zweiten Kopie auf dem väterlichen Chromosom kommunizieren kann. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass es eine grundlegende Kommunikation zwischen den beiden Allelen gibt. Und wir vermuten, dass MSL2 sozusagen dafür sorgt, dass Mama und Papa miteinander reden können – zumindest auf molekularer Ebene,“ erläutert Akhtar, Direktorin am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg und Mitglied des Exzellenzclusters CIBSS – Centre for Integrative Biological Signalling Studies der Universität Freiburg.
Mit methodischem Trick dem Mechanismus auf die Spur kommen
Fasziniert von ihrer Entdeckung, untersuchten die Forscher, wie dieser Mechanismus auf molekularer Ebene funktioniert. Dafür wandte das Team einen Trick an: „Wir haben genetisch weit voneinander entfernte Mausstämme miteinander verpaart – in etwa so, als würde man einen Chihuahua mit einer Dogge kreuzen. So konnten wir verfolgen, welche Allele von der Mutter und welche vom Vater vererbt werden,“ erklärt Yidan Sun, eine der Erstautorinnen der Publikation, die methodische Grundlage für die allelspezifische Genexpressionsanalyse. Mit diesem Hybridmaus-System war das Team in der Lage, die Aktivität der einzelnen Allele zu untersuchen. „Das gab uns im Gegensatz zur Standardmethode der Expressionsdatenanalyse, bei der die Genprodukte über die beiden Allele summiert werden, die nötige Auflösung, um den Expressionsstatus jedes einzelnen Allels zu verfolgen,” fügt Sun hinzu.
Neue Ansätze zur Erforschung komplexer Erkrankungen
Die Experimente zeigen, dass nach dem Verlust von MSL2 in Hybridmauszellen nur noch eine Kopie bestimmter haploinsuffizienter Gene aktiv ist. Das bedeutet, dass MSL2 in Säugetierzellen für die biallelische Expression von Genen notwendig ist, um deren Funktionalität und letzlich die Gesundheit des gesamten Organismus zu gewährleisten. Interessanterweise werden viele der von MSL2 regulierten, haploinsuffizienten Gene mit neurologischen Störungen in Verbindung gebracht.
„Was diese Entdeckung aber noch faszinierender macht, ist die Gewebe- und Zelltypspezifität dieser Gene. Betrachtet man den Organismus als Ganzes, stellt sich die Frage, ob ein durch epigenetische Faktoren wie MSL2 gesteuertes Backup-System erklären könnte, warum Menschen trotz ähnlicher Lebensgewohnheiten wie Rauchen oder Ernährung dann doch ein unterschiedliches Krankheitsrisiko aufweisen, sagt Meike Wiese, eine der Erstautorinnen der Studie.
Evolutionär konservierter Mechanismus
„Mein Labor begann mit der Erforschung der Dosiskompensation in Fruchtfliegen. Das ist der Prozess, durch den männliche Tiere mit nur einem X-Chromosom die gleiche Menge an Genprodukten herstellen können wie weibliche Tiere mit zwei X-Chromosomen. Im Laufe der Jahre hat es uns stets fasziniert, wie männliche Fruchtfliegen doppelt so viel Boten-RNA produzieren wie Weibchen. Ohne diese doppelte Dosis sterben die Männchen einfach! Es scheint, als sei diese Strategie von den Säugetieren geschickt adaptiert worden. Unsere Ergebnisse zeigen deutlich, wie dieselben Werkzeuge, also zum Beispiel MSL2, in der Evolution genutzt werden, um die Gendosierung zu regulieren. Und die Dosierung von Genen ist wichtig bei Krankheiten und während der Entwicklung; unsere Studie liefert neue Erkenntnisse darüber, wie die Zellen in unserem Körper dafür sorgen, dass wir die richtige Dosis an Boten-RNA erhalten,“ sagt Akhtar.
Laut den Forschenden eröffnen die Erkenntnisse auch neue Wege, um die Regulation der Gendosierung in Zellen besser zu verstehen. MSL2 ist möglicherweise nur ein Beispiel für einen Allel-Regulator und es könnte weitere Moleküle geben, die ähnliche Aufgaben erfüllen. Das Team aus Freiburg ist überzeugt, dass ihre Resultate tiefgreifende Auswirkungen auf das Verständnis von komplexen Erkrankungen haben und vielversprechend sind für die Entwicklung potenzieller Therapien.
Original Pressemitteilung
Original publication
Sun Y, Wiese M, Hmadi R, Karayol R, Seyfferth J, Martinez Greene JA, Erdogdu NU, Deboutte W, Arrigoni L, Holz H, Renschler G, Hirsch N, Foertsch A, Basilicata MF, Stehle T, Shvedunova M, Bella C, Pessoa Rodrigues C, Schwalb B, Cramer P, Manke T, Akhtar A (2023). MSL2 ensures biallelic gene expression in mammals. In: Nature. DOI: 10.1038/s41586-023-06781-3
CIBSS-Profil von Prof. Dr. Asifa Akhtar